Hatte sich erst vor Kurzem der Bundesrat[1] für die Einführung des Merkmals „sexuelle Identität“ in Artikel 3, Absatz 3, Satz 1 des Grundgesetzes ausgesprochen, zog am 9. Oktober 2025 die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit einem Gesetzentwurf im Bundestag nach. Die Grünen begründen die von ihnen geforderte Änderung des Grundgesetzes damit, „… dass Lesben, Schwule, Bisexuelle sowie trans-, intergeschlechtliche und queere Menschen (LSBTIQ) in unserer Gesellschaft immer noch Benachteiligungen, Anfeindungen und gewaltsamen Übergriffen aufgrund ihrer sexuellen Identität ausgesetzt“ seien (https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-1113532). Deshalb müsse ein grundgesetzlicher Schutz vor Diskriminierung der „sexuellen Identität“ her.
Grüne: Schutz von LSBTIQ verdient Platz in der Verfassung
Gut 60 Minuten debattierte der Bundestag über die vorgeschlagene Änderung des Grundgesetzes. Den Einstieg in die Debatte machte Nyke Slawik von den Grünen. Slawik begründete die Notwendigkeit des Diskriminierungsverbots der „sexuellen Identität“ mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus: „Nicht berücksichtigt wurde jedoch damals eine Gruppe, die massiven Verfolgungen ausgesetzt war: Hunderttausende queere Menschen wurden im Nationalsozialismus entrechtet, verfolgt, inhaftiert – und manche von ihnen ermordet. Die staatliche Diskriminierung setzte sich in der Bundesrepublik fort.“ Rund 9 Millionen Menschen in Deutschland, so Slawik, würden sich als LSBTIQ identifizieren und ihren Platz in der Verfassung verdienen.
CDU: Grundgesetz schützt schon alle
Dr. Martin Plum von der CDU/CSU-Fraktion machte daraufhin klar, dass er sich gegen die Diskriminierung von Menschen jeglicher Couleur stelle. Er gab jedoch zu verstehen, dass das Grundgesetz hier bereits „klar und umfassend“ schütze und führte an, dass Artikel 2 des Grundgesetzes die sexuelle Selbstbestimmung garantiere und Artikel 3 durch seine Absätze 1 und 3 schon heute Diskriminierungen wegen sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität verböten. Plum meinte zudem, wenn es nicht nötig sei, ein Gesetz zu machen, sei es nötig, es nicht zu machen.
Außerdem sprach er die Unschärfe des Begriffs „sexuelle Identität“ an, den auch die Frauenheldinnen bemängeln. Plum sagte, es erfordere ein besonderes Feingefühl, wenn man über eine Änderung des Grundgesetzes nachdenke: „Erstens bei der Wortwahl. Jedes Wort macht einen Unterschied. ,Sexuelle Ausrichtung‘, ,sexuelle Entfaltung‘, ,sexuelle Orientierung‘, ,sexuelle Identität‘ – klingt alles ähnlich, ist es aber nicht. Rheinland-Pfalz hat im Bundesrat deshalb ausdrücklich auf erhebliche Bedenken gegen den Begriff ,sexuelle Identität‘ hingewiesen. Das kann man nicht einfach so beiseite wischen, wie es der Gesetzentwurf tut.“
AfD: Paraphilien eine Identität?
Auch der nächste Sprecher, Fabian Jacobi (AfD-Fraktion), ging auf die Begriffsunschärfe ein: „Die Grünen wollen die Verfassung ändern. Sie wollen Worte hineinschreiben von der ,sexuellen Identität‘, die als ein verbotenes Merkmal in Artikel 3 des Grundgesetzes eingefügt werden soll. Was aber diese Wörter eigentlich bedeuten sollen, das sagen uns die Grünen nicht.“ Möglicherweise sei dadurch auch das „sexuelle Interesse an Kindern“ geschützt. Jacobi ging weiterhin auf das Selbstbestimmungsgesetz ein, das der Bundestag ändern könne, wenn er wolle. Sei jedoch das Merkmal der „sexuellen Identität“ verfassungsrechtlich geschützt, könne das Bundesverfassungsgericht dies verhindern.
SPD: Im Prinzip dafür, aber …
Carmen Wegge (SPD-Fraktion), die nächste Sprecherin, sagte als Erstes: „Ja, natürlich unterstützen wir das Ziel, die sexuelle Identität im Grundgesetz zu verankern.“ Sie bemängelte jedoch, dass die Grünen den Gesetzentwurf in den Bundestag gebracht hätten, ohne zuvor den Dialog mit den anderen demokratischen Fraktionen zu suchen: „… ohne vorher abzustimmen, wie man gemeinsam vorgeht, das ist kein Ausdruck von Entschlossenheit, das ist ein Schnellschuss. Und ich sage es offen: Das ist auch Symbolpolitik. Und Symbolpolitik hilft am Ende niemandem …“ Direkt an die Grünen gerichtet, sagte sie: „Das ist nicht unbedingt der Weg, wie man hier im Deutschen Bundestag zur Grundgesetzänderung kommt; denn am besten setzt man sich gemeinsam hin und diskutiert, auf welche Wörter – das wurde ja vorhin auch schon ausgeführt – man sich vielleicht verständigen kann, um dann gemeinsam eine Zweidrittelmehrheit herbeizuführen.“
Die Linke: Fordert Union zum Mitmachen auf
Maik Brückner (Fraktion Die Linke) sprach sich für eine Grundgesetzänderung aus und wandte sich direkt an die CDU: „Sie haben jetzt die Chance, das Ganze zu vollenden, und Sie haben dabei einen großen Teil der Abgeordneten hier im Haus an Ihrer Seite. Alle Parteien haben sich doch inzwischen eine Meinung gebildet. Bei jeder Partei ist klar, wie sie abstimmen wird; nur die Union zögert noch. Es hängt alleine an Ihren Stimmen, ob der Bundestag einer Grundgesetzänderung zustimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, lieber Herr Spahn, Sie haben die Wahl: Flirt mit der extremen Rechten oder Grundgesetz stärken.“
Keine Zweidrittelmehrheit in Sicht, wichtige Fragen weiter unbeantwortet
In der Debatte kamen noch zahlreiche weitere Sprecherinnen und Sprecher zu Wort. Doch es wurde klar, welche Fraktionen sich für (Grüne, Linke, Teile der SPD) und welche gegen (CDU/CSU, AfD) die Einführung des Merkmals „sexuelle Identität“ aussprachen, wenn auch manche aus der CDU-Fraktion wie Dr. David Preisendanz einer Grundgesetzänderung nicht zwingend abgeneigt sind. (Zitat aus der Rede von Preisendanz: „Ich persönlich habe viel Sympathie dafür, eine entsprechende Ergänzung zur sexuellen Identität, sexuellen Orientierung in das Grundgesetz aufzunehmen.“ Er machte jedoch auch Folgendes klar: „Wir sprechen über eine Grundgesetzänderung, und die verlangt nun einmal juristische Klarheit, Differenzierung und vor allem einen politischen Konsens.“)
Derzeit scheint es demnach keine Zweidrittelmehrheit im Bundestag für eine Grundgesetzänderung zu geben. Doch die Frage, was eine solche Grundgesetzänderung für das Merkmal Geschlecht in Artikel 3 des Grundgesetzes bedeuten würde, ob Geschlecht noch eine Bedeutung hätte, wenn es mit „geschlechtlicher Identität“ – also allein dem Gefühl, Frau, Mann oder divers zu sein – gleichgesetzt würde, ob Frauen (und natürlich auch Männer) dann noch eigene Räume für sich beanspruchen dürften, ist ebenfalls noch nicht beantwortet. Genauso wenig, was alles unter den Begriff „sexuelle Identität“ fällt. Denn die Definition des Bundesrats, wie sie im offenen Brief der Frauenheldinnen zitiert ist, ist derart unverständlich und schwammig, dass sie alles Mögliche (z. B. auch Paraphilien) umfassen könnte.
Hinzukommt: Die Grünen (und auch der Bundesrat mit Unterstützung von Kai Wegener, Daniel Günther und Hendrik Wüst – CDU) wollen, wie sie selbst in ihrem Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes sagen, „Lesben, Schwule, Bisexuelle sowie trans-, intergeschlechtliche und queere Menschen“ stärker vor Diskriminierung schützen. Doch was sind denn andere „queere Menschen“? Wer noch fällt [AW1] unter den Begriff „queer“?
All diese Fragen bedürfen einer weitreichenden öffentlichen Debatte, bevor eine Grundgesetzänderung überhaupt angedacht werden sollte.
Quellen:
Die Reden der Debatte sind in Schriftform hier https://dserver.bundestag.de/btp/21/21031.pdf (ab Seite 3228) zu finden.
Wer sich die Debatte im Ganzen ansehen möchte, kann das unter folgendem Link tun: https://www.bundestag.de/mediathek/video?videoid=7636828
[1] https://www.bundesrat.de/SharedDocs/beratungsvorgaenge/2025/0301-0400/0313-25.html
[AW1] In Abgrenzung zum zeitlich zu verstehenden „noch“; bei: noch oder nicht mehr.

