Der Sommerurlaub als die schönste Zeit des Jahres endet für eine wachsende Zahl von Teenagern mit einem Alptraum, der Zwangsheirat. Wie die Zeitung „Die Welt“[1] und der Sender „ntv“[2] berichten, trifft es vor allem Mädchen, aber auch einige Jungen, die aus streng patriarchalischen Gesellschaften stammen, sie werden in den Ferien zwangsverheiratet – in der Regel in ihren Herkunftsländern. Warum es dazu kommen kann, erläutert unsere Gastautorin Astrid Warburg-Manthey.
Auf einen Blick:
Wenige Kontakte außerhalb der „Community“
Aufklärung und Hilfe durch die Schulen
Die unterschiedliche Bedeutung von Kindern in Gesellschaften
Wie sehen individualistische Gesellschaften Kinder?
Wie sehen kollektivistische Gesellschaften Kinder?
Leider werden bis heute trotz des Verbots von Zwangsverheiratungen (2011) und Minderjährigenehen (2017) immer noch junge Mädchen und Heranwachsende von ihren Eltern in ihren Communities gegen ihren Willen verheiratet. Oft geschieht dies in den Sommerferien, wenn die Mädchen mit den Eltern in die Herkunftsländer fahren oder geschickt werden. Dort werden ihnen Pässe und Handys weggenommen, und sie werden von der Familie mit ihnen meist fremden Männern, in der Regel Cousins ersten oder zweiten Grades, verheiratet.
Scham, Angst und Unglauben
Da eine große Scham besteht, über familieninterne Angelegenheiten mit Außenstehenden zu sprechen, haben die Mädchen meist niemanden, mit denen sie über einen vorher schon bestehenden Verdacht einer möglichen Zwangsheirat sprechen können. Und sie wollen oft auch gar nicht glauben, dass ihre Eltern ihnen „so etwas“ antun könnten. In den patriarchal-archaischen Strukturen islamisch orientierter Familien wird bedingungsloser Gehorsam gerade der Mädchen gegenüber den Eltern gefordert und Kritik, geschweige denn ein Widersetzen gegen die elterliche Erziehung ist nicht erlaubt.
Wenige Kontakte außerhalb der „Community“
Das führt dazu, dass Mädchen ebenso wie junge Frauen den Familien regelrecht ausgeliefert sind, denn nur selten bestehen engere Kontakte zu nicht-muslimischen Gleichaltrigen (Peers) oder Erwachsenen. Die Peer-Kontakte gestalten sich in der Regel homogen, das heißt innerhalb der weiteren Familie, Community oder Glaubensgemeinschaft. So ist auch die soziale Kontrolle immens und das Bestehen anderer Kontakte, erst recht zum anderen Geschlecht, ist nicht möglich oder wird sofort bekannt. Selbst der Verdacht eines solchen Kontakts gefährdet die Ehre – sowohl die Ehre des Mädchens und damit gleichzeitig die des Vaters respektive des Familienoberhauptes als auch die Ehre der Familie. Die drohenden Sanktionen sind immer von Gewalt geprägt und enden nicht selten in sogenannten Ehrenmorden.
Auch anderen Personen Informationen über die Familie und interne Vorkommnisse mitzuteilen, wird als „Verrat“ angesehen und entsprechend geahndet.
Aufklärung und Hilfe durch die Schulen
Junge Mädchen und Frauen haben wenig Möglichkeiten, dieser engen Bindung an Familie und Community zu entkommen. Eine der seltenen Gelegenheiten ergibt sich in der Schule, unter der Voraussetzung, dass keine Familienangehörigen in derselben Klasse sitzen. Dort können Lehrerinnen und Sozialpädagoginnen versuchen, den Kontakt zu den Schülerinnen zu intensivieren und Vertrauen aufzubauen.
Die Organisation Terre des Femmes versucht ebenfalls in der Zeit vor den großen Ferien in einigen Schulen, die SchülerInnen über die verbotenen Zwangs- und Minderjährigenehen zu informieren und ihnen verständlich zu machen, dass solche Ehen in Deutschland schwere Straftaten gegen die Selbstbestimmung darstellen und allen Mädchen gleich welcher Herkunft oder Religion das Recht in Deutschland zusteht, sich dagegen zu wehren. Dabei wird ihnen in den sogenannten „Weißen Wochen“ vermittelt und aufgezeigt, welche Hilfen es gibt, wie sie diese in Anspruch nehmen können. Und natürlich, dass es ihr Recht ist, das zu tun. Auch gegen den Willen und ohne Wissen der Eltern.
Zwangsheirat ist weiblich
2022 gab es allein in Berlin 496 geplante, befürchtete und vollzogene Zwangsehen. Das belegen die Ergebnisse einer Umfrage des Arbeitskreises Zwangsheirat, auf dessen Website[3] Betroffene Hilfestellung erhalten, sollten sie befürchten, dass ihnen eine Zwangsheirat bevorstehen könnte.
Mädchen und junge Frauen werden auch deutlich häufiger zu Eheschließungen gezwungen als junge Männer. So waren 91 Prozent der Betroffenen weiblich, fünf Prozent männlich. Das hängt mit dem sehr rigiden Geschlechter- und Geschlechtsrollenverständnis zusammen, nach dem die Frau nur vor dem islamischen Gott dem Mann gleichwertig, aber nicht gleichberechtigt ist. Heiraten junger Männer wie auch Frauen mit deutschem Pass dienen vor allem dazu, PartnerInnen aus der Heimat in Deutschland einen Aufenthaltsstatus zu ermöglichen. Dabei werden oft sehr junge Frauen, z. B. aus der Türkei, hierher verheiratet, da eine Hochzeit nicht nur eine Verbindung der beiden Ehepartner herstellt, sondern auch eine wirtschaftliche Rolle für die beteiligten Familien spielt.
Die unterschiedliche Bedeutung von Kindern in Gesellschaften
Warum kommt es noch zu Zwangsheiraten? Kinder haben in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Bedeutungen: Die folgenden Ausführungen skizzieren Unterschiede in der Sicht auf Kinder und die Bedeutung von Kindern in verschiedenen Gesellschaften, wobei es selbstverständlich Abweichungen und weitere Facetten gibt, die durch sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen und individuelle Kontexte entstehen.
Wie sehen individualistische Gesellschaften Kinder?
Kinder haben in einer islamischen, kollektivistischen Gesellschaft einen völlig anderen Wert als Kinder aus individualistischen Gesellschaften. Dieser sog. VoC, Value of children, bezieht sich auf die Rolle und Funktion, die ein Kind für die Familie hat, in die es hineingeboren wird. Die Erziehungsideale und -ziele in unserer westlichen individualistischen Gesellschaft sollen dem Kind mit wachsenden Fähigkeiten und steigendem Alter perspektivisch immer mehr Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Autonomie vermitteln, um ihm ein eigenständiges, freies, unabhängiges Leben als erwachsener Mensch zu ermöglichen. Unsere Gesellschaft verfügt über Sozialleistungen und ein Rentensystem, das auch den Eltern im Alter ein von den Kindern möglichst unabhängiges Leben ermöglichen soll. Das Individuum wird für sich betrachtet, unabhängig von der Familie. Der VoC liegt in der ideellen, emotionalen Bedeutung von Kindern.
Wie sehen kollektivistische Gesellschaften Kinder?
In einer kollektivistischen islamischen Gesellschaft hingegen hat das Kind von Geburt an eine andere Bedeutung und Funktion. Mädchen werden von klein auf auf ihre Rolle als Frau, Ehefrau (möglichst mehrfache Mutter vor allem mindestens eines Sohnes), für alle Reproduktionstätigkeiten zuständig und dem Mann und den weiteren männlichen Familienangehörigen untergeordnet vorbereitet. Jungen hingegen sollen später ihre Rolle als Familienoberhaupt einnehmen, dem es obliegt, die „Ehre“ der Familie zu bewachen und ggf. auch zu verteidigen. Diese Ehre wird vor allem am Verhalten der weiblichen Familienangehörigen bemessen, auch wenn es weitere Arten der Ehre gibt. Während der Sohn als Erwachsener die Eltern im Alter mit versorgen muss, ist die Tochter als Erwachsene in einer anderen Familie in ihrer Rolle als Schwiegertochter für die Care-Arbeit zuständig. Jeder Familie mit ein oder mehreren Töchtern ist daran gelegen, diese möglichst früh und wirtschaftlich gut zu verheiraten, um nicht länger die Verantwortung und Sorge für die Mädchen zu tragen. Es besteht die Auffassung, dass das Risiko, dass ein Mädchen seine Jungfräulichkeit verliert und damit die Ehre „beschmutzt“, geringer ist, je früher es verheiratet ist. Die Verantwortung für die Ehre geht auf den Ehemann über und die Ehefrau muss nun in der Schwiegerfamilie reproduktive und Sorge-Arbeiten übernehmen. Neben der Funktion als Trägerin der „Ehre“ hat das Mädchen hier also zusätzlich eine wirtschaftliche Bedeutung. Der VoC ist für beide Geschlechter ökonomisch geprägt.
Mädchenrechte stärker achten
Diese Unterschiede zwischen kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften haben neben vielen anderen Faktoren Einfluss auf die Bedeutung und den VoC von Kindern. In den westlichen Ländern basieren die jeweiligen Gesetze neben den Werten von Aufklärung, Freiheit und Demokratie auf den Menschenrechten, die jedem Menschen individuelle Rechte zugestehen, und grundsätzlich auf die Gleichberechtigung von Männern und Frauen hinwirken. Diese basalen Unterschiede der Gesellschaftsformen wirken sich auf Erziehung und Sozialisation und die jeweilige Abhängigkeit/Unabhängigkeit, Eigenständigkeit/Eingebundensein in Familie usw. aus.
Wir müssen darauf hinwirken, dass alle Mädchen und Frauen hier in Deutschland die gleichen Rechte haben, unabhängig von Ethnie, Kultur oder Religion.
Frauenrechte sind Menschenrechte! Immer und überall! Universell und unteilbar!
[1] „Zwangsehen“: Wenn im Kinderzimmer die „Braut“ wartet – Aktionswoche an Berliner Schulen – WELT
[2] Prävention vor den Sommerferien: Zwangsheiraten kommen oft nicht überraschend – n-tv.de
[3] zwangsheirat.de – Die zentrale Seite zum Thema Zwangsheirat: Bundesweite Beratungsstellen. Tipps für Betroffene und Fachkräfte. Hintergrundinformationen.